„Im Vergleich mit der gotischen Kathedrale muss vor allem das Licht der … (japanischen) Räume näher betrachtet werden. Es dringt durch die mit durchscheinenden Papier bespannten Schiebetüren und –fenster in das Innere…In der Darstellung des Lichts wird dessen Unmittelbarkeit einmal negiert , d.h. seine unmittelbare Natürlichkeit wird ‚abgeschnitten’, um dadurch das Licht in einem tieferen Glanz neu erscheinen zu lassen. Im Westen hatte es in erster Linie die Bedeutung des göttlichen Lichts und erst dann des Lichts der Natur. Erst die Maler des Impressionismus, die diese metaphysische Auffassung ablehnten, versuchten, nur das unmittelbare Licht darzustellen.
Die Grunderfahrung der gotischen Kathedrale entspricht einer bestimmten ‚Lichtmetaphysik’ des europäischen Mittelalters. Von dem Problem, wie die Kathedrale als ‚Haus Gottes’ auszusehen hat, wurde im 12.Jahrhundert der Abt Suger des Klosters Saint-Denis bewegt. Im romanischen Stil waren die Mauern der Kirche sehr dick gehalten, wodurch der Himmel und das Innere des ‚Hauses Gottes’ völlig getrennt blieben. Für Suger…war der Himmel das Land des Lichts. Um dieses Land auf Erden zu verwirklichen, ließ er ein Gebäude nicht aus Wänden, sondern aus Pfeilergruppen bauen. Weiterhin erhielt der Turm ein offenes Strebwerk, das sich auf den unendlichen Himmel hin öffnete; die Wandflächen wiederum wurden zu Fenstern verwandelt. Auf Grund dieser besonderen Konstruktion konnte durch die im Vergleich zu romanischen Kirchen enorm erweiterte Fensterflächen das Licht des Himmels in schillernden Farben in den Raum hineinleuchten. Das war die Geburtsstunde der gotischen Kathedrale.
Im Gegensatz hierzu ist das Licht in…Teeräumen kein göttliches Licht im gotischen Sinn. Es kommt nicht aus der Höhe, zu der man aufblickt, sondern dringt in Sitzhöhe in den Raum.“ Im japanischen Tempel und Häusern zum Beispiel: „scheint das Licht durch die Öffnung unter den bis zur Hälfte herabgelassenen Papierschiebetüren. Das von oben kommende Licht wird in seiner Unmittelbarkeit ‚abgeschnitten’, so dass es von seiner natürlichen, bzw. göttlichen Quelle getrennt ist. In seiner Nicht-Gerichtetheit erfüllt es unaufdringlich das Innere des Zimmers. Der Raum, erfüllt von diesem ‚Licht ohne Lichtquelle’, ähnelt einem stillen Teich, dessen Quelle tief im eigenen Grund liegt. Die Menschen, die ruhig im Inneren des Raumes sitzen, werden nicht vom himmlischen Licht angestrahlt, sondern vertiefen sich in ihren eigenen Grund. Hier offenbart sich nicht der Gott der gotischen Kathedrale, der sich in unendlicher Höhe befindet, sondern öffnet sich die Tiefe der Freiheit des einzelnen.“
(Ryôsuke Ôhashi: „Kire ‚Das Schöne’ in Japan. Philosophisch-ästhetische Reflexionen zu Geschichte und Moderne“, DuMont Buchverlag: Köln, 1994, S.106)